Hintergrund
'Ecosystem services', 'Ökosystemdienstleistungen' und 'Ökosystemleistungen' (ÖSL) haben sich zu Schlüsselwörtern der internationalen, europäischen und zunehmend auch der deutschen Debatten über Naturschutz und Landschaftspflege entwickelt. Sie können als Indikatoren einer programmatischen Neuausrichtung der Biodiversitätspolitik unter ökonomischen Vorzeichen betrachtet werden. Bislang ist kaum untersucht worden, wie sich das Regieren im Politikfeld ‚Naturschutz und Landschaftspflege‘ in Deutschland in Verbindung mit dem verstärkten Gebrauch des Worts ‚Ökosystemleistungen‘ verändert. Kommt es beispielsweise zu der im internationalen Raum häufig beschriebenen Ökonomisierung oder Neoliberalisierung von Natur und Landschaft, das heißt zur Ausweitung der Anwendung ökonomischer, marktwirtschaftlicher Prinzipien? Oder überwiegen Gegenkräfte, die auf eine Bestärkung des eingespielten Verhältnisses von staatlicher Regulierung, zivilgesellschaftlichem Engagement und Marktkräften hinauslaufen? Oder aber entwickelt sich im Zuge der ÖSL-Diskurse, die aktuell in Deutschland produziert werden, ein spezifisches neuartiges Verständnis von Naturschutz- und Landschaftspolitik? – Um diese grundlegenden Fragen dreht sich das Vorhaben.
Ziele
Ziel ist es, ÖSL-Diskurse in Deutschland aus der Perspektive der Gouvernementalitätsforschung zu untersuchen. Es soll analysiert werden, wie Naturschutz und Landschaftspflege in Verbindung mit dem ökonomisch geprägten ÖSL-Konzept verhandelt werden. Im Mittelpunkt stehen die in den entsprechenden Diskursen und Gegendiskursen produzierten Problematisierungen und Rationalitäten des Regierens im Politikfeld 'Naturschutz und Landschaftspflege'. Insbesondere geht es um die Veränderungsdynamik dieser Problematisierungen und Rationalitäten in Deutschland. Eng damit zusammen hängt die Frage, welche Änderungen mit Blick auf die Konstituierung der Gegenstände dieser Politik (also Natur, Landschaft, biologische Vielfalt, Planung etc.) als Bestandteil von Problematisierungen zu beobachten sind und ob im Zuge der ÖSL-Diskurse sogar gänzlich neue Objekte in Erscheinung treten.
Methodik
Das Vorhaben ist diskursanalytisch angelegt. Es soll mit quantitativen, lexikometrischen Methoden und mit Methoden der qualitativ-empirischen Sozialforschung wie Feinanalysen von Dokumenten, leitfadengestützte Interviews und teilnehmende Beobachtungen bearbeitet werden. Unter anderem sollen die Initiativen 'Naturkapital Deutschland – TEEB DE' und 'Umsetzung von Maßnahme 5 der EU-BioDiv-Strategie in Deutschland' (MAES DE) vertieft untersucht werden.
Bisher erreichte Ergebnisse
In einer ersten empirischen Untersuchung wurden Textdokumente diskursanalytisch ausgewertet, die mit der politischen Initiative 'Naturkapital Deutschland – TEEB DE' in Zusammenhang stehen (Leibenath 2017, 2018, 2019). Sie wurden daraufhin untersucht, welche Arten von Problembeschreibungen und Rationalitäten des Regierens darin zu erkennen sind und inwiefern TEEB-DE als neoliberal zu charakterisieren ist. Dazu wird auf die Gouvernementalitätsperspektive zurückgegriffen und ein Analyseraster entwickelt, um souveräne, disziplinierende und neoliberale Regierungsweisen im Naturschutz analytisch voneinander differenzieren zu können. Die Ergebnisse zeigen, dass in TEEB-DE zwar eine stark neoliberal geprägte Sicht auf die Gegenstände und Herausforderungen des Naturschutzes zum Ausdruck kommt. Mit Blick auf mögliche Ziele, Strategien und Handlungskonzepte tritt jedoch eine widersprüchliche Vielfalt von Rationalitäten zutage. Für die Praxis bedeutet das, dass sich unter Bezugnahme auf TEEB-DE sehr verschiedenartige naturschutzpolitische Anliegen begründen lassen.
Diskurse und Gegendiskurse im Zusammenhang mit dem ÖSL-Konzept wurden weiter empirisch untersucht (Kurth 2019a, 2019b). Dazu wurden Interviews mit insgesamt sechs Schlüsselakteuren der Studie "Naturkapital Deutschland – TEEB DE" geführt. Außerdem wurden 30 Texte, die wir aus einem Korpus von mehr als 200 Publikationen ausgewählt haben, detailliert diskursanalytisch untersucht. Es hat sich gezeigt, dass Begriffe "Inwertsetzung", "Naturkapital sichtbar machen" und "besser in Entscheidungen berücksichtigen" im Zentrum des TEEB-DE-Diskurses stehen. Demnach sollten ökonomische Ansätze und Bewertungen nicht pauschal abgelehnt werden, sondern immer dann eingesetzt werden, wenn sie die Anliegen des Naturschutzes mit "Zusatzargumenten" unterfüttern könnten. Kritische Stimmen aus den Reihen der Studienbeteiligten wenden ein, dass bei TEEB-DE nicht nur der ÖSL-Ansatz höchst selektiv eingesetzt wird und beispielsweise die Bestäubungsleistung des Windes unberücksichtigt lässt. Bemängelt wird außerdem, dass hier ein anglo-amerikanisch geprägtes Konzept den bewährten Planungs- und Prüfinstrumenten "aufgepfropft" werden solle und dass ökonomische Bewertungen ein erhebliches Risiko für den Naturschutz bergen, weil viele Schutzmaßnahmen unter Kostengesichtspunkten hinterfragbar seien und weil sich umweltschädigende Vorhaben ökonomisch häufig rechneten – je nachdem, welchen Betrachtungszeitraum man zugrunde legt. In Gegendiskursen, die außerhalb von TEEB-DE produziert wurden, wird vor allem bemängelt, dass keine ökonomischen Bewertungen erforderlich seien, um ökonomische Politikinstrumente einzusetzen, und vor allem dass es illusionär sei anzunehmen, eingefahrene Machtungleichgewichte und Interessengegensätze mit ökonomischen Ansätzen wie dem ÖSL- oder dem Naturkapital-Konzept etwas entgegen setzen zu können.
Publikationen
Leibenath, M., Kurth, M. & Lintz, G. (2020), Science–policy interfaces related to biodiversity and nature conservation: The case of Natural Capital Germany—TEEB-DE. Sustainability, 12, 9, 3701. http://dx.doi.org/10.3390/su12093701
Leibenath, M. (2017), Ecosystem services and neoliberal governmentality – German style. Land Use Policy, 64, 307-316. https://dx.doi.org/10.1016/j.landusepol.2017.02.037.
Kurth, M. (2019), Jenseits von Konsensfiktion und Vereinnahmung. Zur Neubestimmung des Ortes umweltsoziologischer Kritik am Beispiel von "Naturkapital Deutschland – TEEB DE". In: Burzan, N. (Hrsg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. Online verfügbar unter https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2018/article/download/1080/1381, besucht am 09.03.2020.
Kurth, M. (2019), Zur Befragung der Umweltforschung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik – Theorie und Methodik der postfundamentalistischen Diskursanalyse am Beispiel von "Naturkapital Deutschland – TEEB DE". In: Sattlegger, L., Deppisch, L. & Rudolfi, M. (Hrsg.), Methoden umweltsoziologischer Forschung. Tagungsband der 15. Tagung der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie. ISOE-Materialien Soziale Ökologie (92-101). Frankfurt a. M.: ISOE. Online verfügbar unter http://isoe-publikationen.de/fileadmin/redaktion/ISOE-Reihen/msoe/msoe-56-isoe-2019_92-101_Kurth.pdf, besucht am 09.03.2020.
Leibenath, M. (2018), Ökosystemleistungen und die Neoliberalisierung des Naturschutzes: Untersucht am Beispiel von ‚Naturkapital Deutschland – TEEB DE’. Naturschutz und Landschaftsplanung, 50, 2, 51-56.
Leibenath, M. (2018), The Ecosystem Services Concept and its relation to national biodiversity policies: The case of ‘Natural Capital Germany – TEEB DE’. In: Berger, L. (Hrsg.), Marine Ecosystem Services (= BfN-Skripten 521) (101-112). Bonn: BfN. Online available https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/skripten/Skript_521.pdf, accessed on 29.01.2019.
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